Kirche im Kipppunkt?

10. Feb 2023

… im Gespräch mit Tomáš Halík

Monat für Monat treten Tausende von Menschen bei den Amts­ge­richten bzw. Stan­des­äm­tern aus der katho­li­schen und evan­ge­li­schen Kirche aus, und das nicht nur in Köln. Beim Stan­desamt in München entscheidet sich derzeit alle fünf Minuten einer für den Kirchen­aus­tritt — am Tag bis zu 150 Personen. Nach der Wieder­ver­ei­ni­gung waren noch 72 Prozent der Deut­schen evan­ge­lisch oder katho­lisch, 2021 nur noch 49,7 Prozent, Tendenz weiterhin fallend. Die zustän­dige Beamtin in München nennt drei „Kunden­typen“: Die Armen — zumeist alte Menschen, die sich Kirche nicht mehr leisten können; die Poli­ti­schen — junge und alte, die als Gründe die Miss­brauchs­skan­dale, die Unter­drü­ckung der Frau, das mangelnde Enga­ge­ment in der Flücht­lings­krise und das Schweigen zum Krieg nennen; die Gleich­gül­tigen — meist junge Menschen, die ihren ersten Gehalts­zettel bekamen und darauf die Kirchen­steuer sahen (Spiegel Online, 6. Februar 2023). Der Austritt bei einer staat­li­chen Behörde will wohl die Reli­gi­ons­frei­heit des Grund­ge­setzes sichern, denn die persön­li­chen Gründe sind für den Weg aus der Kirche juris­tisch ohne Belang.

Weil gesell­schaft­liche Mehr­heits­ver­hält­nisse die Tendenz haben, sich zu verstärken, kommt die Kirchen­mit­glied­schaft unter Begrün­dungs­zwang. (Detlef Pollack) „Was, du bist noch in der Kirche?“ Der Begrün­dungs­zwang beein­flusst auch das Verhalten derer, die noch in der Kirche sind. 2019 planten bei einer Umfrage noch 24 Prozent den Besuch eines Weih­nachts­got­tes­dienstes, 1922 waren es noch 15 Prozent. Für 2021 vermerkt das Erzbistum einen Kirchen­be­such von gerade einmal 3,5 Prozent. Die nied­rige Zahl hängt sicher­lich auch mit den gesund­heits­po­li­ti­schen Maßnahmen der Corona-Zeit zusammen, aber man darf sich auch nichts vorma­chen: Schon vor den Corona-Jahren gab es beacht­liche Einbrüche bei den Gottes­dienst­be­su­cher­zahlen. Für den Reli­gi­ons­so­zio­logen Detlef Pollack offen­baren diese Zahlen einen kultu­rellen Erdrutsch.

Wenn Kirche von unten wächst, stellt sich die Frage nach der Bindungs­fä­hig­keit der Kirchen­ge­meinden vor Ort, und dabei kann der tsche­chi­sche Sozio­loge und Theo­loge Tomáš Halík weiter­helfen. Denn für ihn sind Kirchen­ge­meinden auch Orte des Denkens und der Reflexion:

„Kriti­sches Denken hilft dem Glauben, nicht in Fana­tismus, Bigot­terie und Funda­men­ta­lismus zu verfallen; der Glaube hilft dem Zweifel, nicht in zyni­schen Prag­ma­tismus oder Resi­gna­tion zu verfallen.“ Dieser Dialog finde im Inneren, in den Köpfen und Herzen vieler Menschen statt. Er müsse daher „geför­dert und kulti­viert werden”. (katholisch.de, 30. November 2022)

Tomáš Halík, Jahr­gang 1948, weist einen bewegten Lebens­lauf auf. Aufge­wachsen in einem reli­giös nicht gebun­denen Eltern­haus näherte er sich der tsche­cho­slo­wa­ki­schen Unter­grund­kirche, wurde 1978 in Erfurt zum Priester geweiht, arbei­tete u.a. mit dem ersten tsche­chi­schen Staats­prä­si­denten Václav Havel im poli­ti­schen Wider­stand, der zur „samtenen Revo­lu­tion“ des Jahres 1989 führte. Später war er persön­li­cher Berater und Freund von Václav Havel und Professor für Sozio­logie an der Karls­uni­ver­sität Prag. Zudem ist er Seel­sorger der Akade­mi­schen Gemeinde Prag. Sein letztes Buch hat in der kirch­li­chen, theo­lo­gi­schen, sozio­lo­gi­schen und reli­gi­ons­phi­lo­so­phi­schen Szene große Beach­tung gefunden:

Tomáš Halík: Der Nach­mittag des Chris­ten­tums. Eine Zeit­an­sage, Herder, Frei­burg — Basel — Wien 2022.

Gemeinsam mit Pfarrer Johannes Hammer lade ich zu drei Gesprächs­abenden ein:

Mitt­woch, 1. März 2023

Donnerstag, 16. März 2023

Donnerstag, 4. Mai 2023

Ort und Zeit: Orato­rium der Marti­nus­kirche, jeweils um 19.30 Uhr.

Prof. Dr. Wolf­gang Werner

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