Wenn ich in diesen Tagen abends den Fernseher einschalte, sehe ich in den großen Talkshows und Nachrichtensendungen viele wichtige Menschen. Ich kenne mittlerweile fast alle Namen der Ministerpräsidenten, die jetzt mit der Bundeskanzlerin darum ringen, welche Lockerungen regional möglich sind bei gleichzeitiger Beobachtung des Infektionsgeschehens. Bei Maischberger, Illner und Lanz tummeln sich bewundernswert intelligente und ausgezeichnete Wissenschaftler, Ärzte, Biologen und Virologen, deren Namen mir bis vor wenigen Wochen unbekannt waren. Sie alle führen, leiten und informieren uns in dieser Krise.
Parallel dazu gibt es Menschen, die in den systemrelevanten Berufen ‑trotz teilweise ungerechter Bezahlung- dafür sorgen, dass unser Gemeinwesen während des Ausnahmezustandes weiterhin funktioniert. Sie alle- egal ob prominent oder weniger bekannt- leisten einen sehr wichtigen und notwendigen Beitrag. Es wird berechtigterweise gelobt und gedankt.
Trotzdem oder gerade deshalb möchte ich heute mal eine andere Gruppe von Menschen in den Blick nehmen.
Die große biblische Wüstenwanderungsgeschichte erzählt von Mose, Aaron und Josua. Von ihren Führungsleistungen und großen Taten. Sie erzählt von Gott, von seinem Geleit und seinen Wundern. Und sie erzählt auch vom „Volk“, von „den Leuten“, „den Israeliten“. Was sie nicht erzählt oder nur selten, ist die Geschichte der Einzelpersonen dieses Volkes. Sie erzählt wenig von der Frau, dem Mann, dem Kind, das auf dieser Wüstenwanderung Schritt für Schritt gegangen ist. Jede und jeder Einzelne musste diese Wanderung für sich bestehen. Sie waren zwar Teil einer solidarischen Weggemeinschaft, einer geführten und gesegneten Weggemeinschaft – aber jede und jeder Einzelne musste doch jeden Schritt durch die Wüste selbst tun. Jede und jeder Einzelne musste jeden Tag durchhalten, guten Mutes bleiben, irgendwie vorankommen.
In unserer Corona-Krise gibt es viele Menschen, die zunächst einfach mal sehen, wie sie durchkommen durch den Tag. Die überlegen, wie sie die Kontaktverbote einhalten und die Versorgung unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln aufrechterhalten können. Menschen, die ihren Tagesablauf strukturieren, regelmäßige Mahlzeiten auf den Tisch bringen, die Wäsche waschen. Die ihr Homeoffice organisieren und mit dem Hausunterricht ihrer Kinder vereinbaren müssen. Die ein paar soziale Kontakte pflegen, sich bemühen einigermaßen bei Laune zu bleiben und die für die Familie trotz Existenzangst stark sein müssen. Familien, die ihre Angehörigen nicht im Altersheim oder Krankenhaus besuchen dürfen. Großeltern, die sich plötzlich mit neuen digitalen Medien auseinandersetzen, um die Enkelkinder in der Ferne endlich mal wiederzusehen. Studenten, die ungefragt und ungewollt ein kollektives Fernstudium absolvieren. Kinder, die auf dem Schulhof nicht mehr unbeschwert miteinander toben können. Frauen, Männer, Jugendliche, Kinder, die einfach ihren Alltag bewältigen und bestehen.
Dadurch aber, dass sie das schaffen – und wir alle sind die, die das derzeit irgendwie schaffen – leisten sie einen Beitrag, dass unsere Weggemeinschaft vorankommt in der Corona-Krise. So wie damals das Volk Gottes auf dem Weg ins gelobte Land. Jede und jeder, der es schafft, sich an die Schutzregeln zu halten und seinen Alltag zu bewältigen, leistet einen solidarischen Beitrag auf unserem gemeinsamen Weg durch die Corona-Wüste. Ich glaube, es lohnt sich, sich auch das immer wieder mal bewusst zu machen. Ich muss nicht jeden Tag eine besondere Heldentat vollbringen, um einen Beitrag zu leisten. Den Alltag bestehen, damit es voran geht Tag um Tag, das ist nicht wenig in dieser Zeit.
Gerlind Kaptain