Liebe Leserinnen und Leser,
am 4. Sonntag nach Ostern spricht das Evangelium vom Guten Hirten. In allen drei Lesejahren ist das so.
Das Bild vom Guten Hirten tut gut: Er sorgt sich. Er kümmert sich. Er begleitet in Gefahren.
Der Gute Hirte braucht aber auch Schafe. Das will heute eher keiner mehr sein. So steht das Bild auch unter Verdacht, überkommene kirchliche Strukturen zu untermauern.
Auch jetzt in der Corona-Krise gibt es offensichtlich Hirten. Das ist wohl nötig. Zuweilen profilieren sie sich auch gern so.
Und es gibt Schafe. Die genau das aber langsam leid sind.
Ursprünglich ist das Bild vom Guten Hirten erstmal ein altes Christusbild. Es findet sich in vielen Grabstätten der frühen Christen.
Warum? Es drückt aus, wie sich die Christen damals vom Evangelium her sehen: Es führt sie nicht zu Ergebenheit in das Schicksal und den Tod. Auch den Armen und den Sklaven — viele von ihnen gehören dazu — verheißt es Leben. Ihnen ganz persönlich. Leben, das vor Gott zählt: Du bist in den Händen des lebendigen Gottes. Er geht auf dich zu, er geht dir nach.
Das zündet wie eine Bombe. Da ist plötzlich jeder etwas wert. Ein Gegenbild ist das zu den Schreckbildern, denen die Menschen in der Realität ausgesetzt sind. Ein Gegenbild, das aber auch selbst Realität formt aus der Erfahrung des Glaubens. Und Kräfte freisetzt.
Der Gute Hirte, er macht Leben heil. Das macht ihn aus. Eine befreiende Botschaft ist das. Ein kritischer Maßstab für Strukturen, nicht nur in der Kirche.
Jetzt zu den Schafen: Die braucht ein Hirt. Hier in diesem Bild aber nicht als ein Objekt von Gängelei. Sie sind geliebt, damit sie Leben haben.
Und außerdem: So eindeutig sind die Rollen nicht vergeben. Wen österliche Hoffnung trägt, der ist nicht einfach Schaf. Er ist auch Guter Hirte für andere. Möglicherweise sogar für die, die sich selbst für Hirten halten.
Das alles gilt nicht nur in der Kirche. Auch für einen Blick in die Gesellschaft und jetzt in die Corona-Krise hat das Bild seine Reize.
Clemens Steiling