Gedanken zum Tag – 1. Mai 2020, Freitag der dritten Osterwoche

1. Mai 2020

„Der Mai ist gekommen,
die Bäume schlagen aus.
Da bleibe, wer Lust hat,
mit Sorgen zu Haus!
Wie die Wolken dort wandern
am himm­li­schen Zelt,
so steht auch mir der Sinn
in die weite, weite Welt.“

Der 1. Mai war für mich immer ein beson­derer Tag. Mit vielen bunten Tradi­tionen feiern wir mit Familie oder Freunden alljähr­lich den Beginn der wärmeren Jahreszeit.
Dieses Jahr nicht.

Kein „Tanz-in-den-Mai“-Fest, kein Kurz­trip in ein schönes langes Wochen­ende, keine Gruppen-Wande­rung mit Boller­wagen und kühlen Getränken. Ja, auch mir steht „der Sinn in die weite, weite Welt“, aber dieses Jahr bleiben wir statt­dessen „mit Sorgen zu Haus“ — auch, wenn wir dazu eigent­lich keine Lust haben, um es etwas über­spitzt mit den Worten von Emanuel Geibel aus dem bekannten Volks­lied auszu­drü­cken. Immer noch heißt es Kontakt­verbot, Stay­home, Masken­pflicht, Abstand halten und obwohl einige Locke­rungen in Aussicht stehen, gerät meine Geduld nun doch gele­gent­lich an Grenzen.

Geduld. Ein Zauber­wort in dieser Zeit. Und eine große Lern­auf­gabe. Geduld ist eine Tugend, die in unserer hekti­schen Zeit oft auf der Strecke bleibt. Wir sind das Warten nicht mehr gewohnt. Durch Handy und Internet sind wir mobil und erreichbar, so dass Warte­zeiten auf ein Minimum redu­ziert werden. Beide helfen uns jetzt viel­leicht beim Home Office, aber ansonsten ist in dieser Krise nichts mehr so, wie wir uns das vorstellen. Unser gewohntes Leben hat Pause.

Die Bibel lobt die Geduld als Frucht des Heiligen Geistes (Gal 5,22), die von allen Anhän­gern Christi hervor­ge­bracht werden sollte (1.Thess 5,14). Geduld zeigt unser Vertrauen auf Gottes Timing, seine Allmacht und Liebe. Das ist jetzt gefragt!

Oder wie es der heilige Franz von Sales schreibt: „Was wir brau­chen ist ein Becher voll Verstehen, hundert­tau­send Liter Liebe und einen Ozean voll Geduld.“ Jetzt heißt es annehmen, loslassen und vertrauen.

Es liegt an uns, ob wir uns von den Gefühlen mitreißen lassen, oder ob wir auch bei stür­mischster See unser inneres Gleich­ge­wicht bewahren.

Ich wünsche uns allen, dass wir trotz dieser schwie­rigen Zeit auch weiterhin ganz viel Schönes entde­cken, als Fami­lien zusam­men­rü­cken, neue Hobbies und Talente finden, die heimi­sche Natur erleben, die Sonne genießen und viel­leicht mal Briefe schreiben.
Viel­leicht können wir Dinge ordnen, Gefühle zum Ausdruck bringen, Ruhe finden, wieder bei uns selbst ankommen und auftanken, um dem Alltag mit neuer Kraft zu begegnen. Ich wünsche uns, dass wir gesund bleiben, dass wir Geduld haben und vor allem Gott­ver­trauen! Viel­leicht kann uns der unten­ste­hende Text meines Lieb­lings­dich­ters einen neuen Blick­winkel schenken.

Einen guten Start in den Mai wünscht Ihnen

Gerlind Kaptain

Über die Geduld

Man muss den Dingen
die eigene, stille,
unge­störte Entwick­lung lassen,
die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
oder beschleu­nigt werden kann;
alles ist austragen –
und dann gebären…
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Früh­lings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind,
als ob die Ewig­keit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit …
Man muss Geduld haben,
mit dem Unge­lösten im Herzen
und versu­chen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlos­sene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man viel­leicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages in die Antwort hinein.

(Rainer Maria Rilke)

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