… im Gespräch mit Tomáš Halík
Monat für Monat treten Tausende von Menschen bei den Amtsgerichten bzw. Standesämtern aus der katholischen und evangelischen Kirche aus, und das nicht nur in Köln. Beim Standesamt in München entscheidet sich derzeit alle fünf Minuten einer für den Kirchenaustritt — am Tag bis zu 150 Personen. Nach der Wiedervereinigung waren noch 72 Prozent der Deutschen evangelisch oder katholisch, 2021 nur noch 49,7 Prozent, Tendenz weiterhin fallend. Die zuständige Beamtin in München nennt drei „Kundentypen“: Die Armen — zumeist alte Menschen, die sich Kirche nicht mehr leisten können; die Politischen — junge und alte, die als Gründe die Missbrauchsskandale, die Unterdrückung der Frau, das mangelnde Engagement in der Flüchtlingskrise und das Schweigen zum Krieg nennen; die Gleichgültigen — meist junge Menschen, die ihren ersten Gehaltszettel bekamen und darauf die Kirchensteuer sahen (Spiegel Online, 6. Februar 2023). Der Austritt bei einer staatlichen Behörde will wohl die Religionsfreiheit des Grundgesetzes sichern, denn die persönlichen Gründe sind für den Weg aus der Kirche juristisch ohne Belang.
Weil gesellschaftliche Mehrheitsverhältnisse die Tendenz haben, sich zu verstärken, kommt die Kirchenmitgliedschaft unter Begründungszwang. (Detlef Pollack) „Was, du bist noch in der Kirche?“ Der Begründungszwang beeinflusst auch das Verhalten derer, die noch in der Kirche sind. 2019 planten bei einer Umfrage noch 24 Prozent den Besuch eines Weihnachtsgottesdienstes, 1922 waren es noch 15 Prozent. Für 2021 vermerkt das Erzbistum einen Kirchenbesuch von gerade einmal 3,5 Prozent. Die niedrige Zahl hängt sicherlich auch mit den gesundheitspolitischen Maßnahmen der Corona-Zeit zusammen, aber man darf sich auch nichts vormachen: Schon vor den Corona-Jahren gab es beachtliche Einbrüche bei den Gottesdienstbesucherzahlen. Für den Religionssoziologen Detlef Pollack offenbaren diese Zahlen einen kulturellen Erdrutsch.
Wenn Kirche von unten wächst, stellt sich die Frage nach der Bindungsfähigkeit der Kirchengemeinden vor Ort, und dabei kann der tschechische Soziologe und Theologe Tomáš Halík weiterhelfen. Denn für ihn sind Kirchengemeinden auch Orte des Denkens und der Reflexion:
„Kritisches Denken hilft dem Glauben, nicht in Fanatismus, Bigotterie und Fundamentalismus zu verfallen; der Glaube hilft dem Zweifel, nicht in zynischen Pragmatismus oder Resignation zu verfallen.“ Dieser Dialog finde im Inneren, in den Köpfen und Herzen vieler Menschen statt. Er müsse daher „gefördert und kultiviert werden”. (katholisch.de, 30. November 2022)
Tomáš Halík, Jahrgang 1948, weist einen bewegten Lebenslauf auf. Aufgewachsen in einem religiös nicht gebundenen Elternhaus näherte er sich der tschechoslowakischen Untergrundkirche, wurde 1978 in Erfurt zum Priester geweiht, arbeitete u.a. mit dem ersten tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel im politischen Widerstand, der zur „samtenen Revolution“ des Jahres 1989 führte. Später war er persönlicher Berater und Freund von Václav Havel und Professor für Soziologie an der Karlsuniversität Prag. Zudem ist er Seelsorger der Akademischen Gemeinde Prag. Sein letztes Buch hat in der kirchlichen, theologischen, soziologischen und religionsphilosophischen Szene große Beachtung gefunden:
Tomáš Halík: Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage, Herder, Freiburg — Basel — Wien 2022.
Gemeinsam mit Pfarrer Johannes Hammer lade ich zu drei Gesprächsabenden ein:
Mittwoch, 1. März 2023
Donnerstag, 16. März 2023
Donnerstag, 4. Mai 2023
Ort und Zeit: Oratorium der Martinuskirche, jeweils um 19.30 Uhr.
Prof. Dr. Wolfgang Werner