Perspektivwechsel
“Du siehst nicht wirklich die Welt, wenn du sie nur durch dein eigenes Fenster siehst”. Dieses ukrainische Sprichwort von meiner Mannschaftskollegin habe ich in den letzten Wochen immer besser verstanden.
Von Bonn aus bin ich im Sommer mit einem Tennisstipendium in die USA geflogen. Letztes Mal habe ich über das “Horizont erweitern” geschrieben und voller Vorfreude auf diese neue Erfahrung geblickt. Als ich aus dem Fenster des Flugzeuges zum ersten Mal auf Chicago schaute, hatte ich klare Vorstellungen und Hoffnungen für mein Auslandsjahr. Doch dann kam vieles anders, unerwartet, und auch enttäuschend.
Die ersten paar Wochen würde ich die Weltstadt Chicago zunächst nicht wiedersehen und einen Kulturschock erleben, den ich nicht erwartet hatte. Ich kam an einem leeren Campus an, zog in ein leeres Wohnheim ein und stellte schnell fest, dass hier wenig los ist. Über Corona ist vieles eingeschlafen, sodass vom typischen College-Leben nicht mehr viel übrig ist. Veranstaltungen gibt es kaum und die meisten Studierenden wohnen bei ihren Eltern. Die katholische Privatuni liegt zwar in einer Vorstadt von Chicago, hat jedoch mit Großstadt nicht viel zu tun. Ohne Auto kommt man noch nicht einmal zum Supermarkt, der Campus ist nur von Zäunen und Bundesstraßen umgeben. Es gibt überall Fast-Food, Plastik und Cola. Den Menschen merkt man ganz deutlich die typische Midwest-Mentalität an. Gesprächsthemen außerhalb der Uni sind schwierig und es gibt wenig Interesse für fremde Kulturen, Ideen, politische Meinungen, etc. In der „bible study“ merke ich, wie unterschiedlich wir unseren Glauben leben und verstehen. Das Interesse, den Campus zu verlassen ist gering und auch nach drei Wochen hatte ich noch niemanden gefunden, der mit mir nach Chicago fahren wollte.
Frustriert entschied ich, das Abenteuer Chicago auf eigene Faust in Angriff zu nehmen: Eine Fahrt mit einem uralten ruckelnden Zug. Später blickte ich aus dem Fenster und fand mich in einer anderen Welt wieder. Umgeben von Wolkenkratzern tauchte ich ein in die Stadt, deren Diversität, Größe, Kultur, Offenheit und Atmosphäre mich sofort faszinierte. Über ein Studierendennetzwerk freundete ich mich mit zwei Bonner Alumni vor Ort an. Gemeinsam haben wir schon alle möglichen Restaurants ausprobiert, sind die Küste entlang im Lake Michigan geschwommen, haben Frisbee im Lincoln Park gespielt, waren bis früh morgens feiern, auf einem Jazzfestival, im Kunstmuseum, Bowling und Tischtennis spielen, waren Essen im 90. Stockwerk eines Hochhauses, Joggen mit Blick auf die Skyline, bei einer Lichtshow am Riverwalk, im Zoo, und noch viel mehr. Ich traf Menschen, deren Erfolg sie in die USA gebracht und zu Millionären gemacht hat, und lernte durch Zufall einen richtig spannenden Menschen aus South Side, dem Problemviertel der Stadt kennen. Er hat mit mir seine Perspektive als Afro-Amerikaner geteilt, mir von seiner Frustration über Rassismus und Politik, über ungleiche Chancen und Vorurteile erzählt.
Sonntags abends geht es dann zurück an die Lewis University. Die Woche besteht für mich ganz viel aus Tennistraining. Das Sportprogramm ist exzellent und es macht richtig Spaß, den Teamgeist und die Motivation hier zu erleben. Wir trainieren ein bis zwei Mal am Tag für mehrere Stunden und fahren regelmäßig auf Turniere zur Saisonvorbereitung. Mein Stundenplan ist auf das Training abgestimmt und die Tennisplätze liegen direkt auf dem Campus. Eine Chance, die man in Deutschland nicht bekommen kann.
Der zweite große Teil ist natürlich die Uni. Wobei, eigentlich fühlt es sich eher an wie Schule. Ganz kleine Kurse, die Professoren kennen jeden persönlich und es gibt Hausaufgaben. Man wählt ganz verschiedene Fächer und in manchen davon langweile ich mich mit Wahrscheinlichkeitsspielchen, die wir am Franziskusgymnasium in der Mittelstufe gemacht haben. Die Informatik hingegen ist insofern herausfordernd, dass sie viel praktischer orientiert ist als in Deutschland. Während mathematisch ganz wenig Grundverständnis vorausgesetzt wird, müssen wir viel programmieren. So ist es unterfordernd und herausfordernd zugleich und konfrontiert mich mit einer ganz ungewohnten Perspektive auf mein Studienfach Informatik.
Auch wenn es mir manchmal schwerfällt, versuche ich auch auf dem Campus die Dinge positiv anzugehen und so viel wie möglich aus dieser Erfahrung mitzunehmen.
Glücklicherweise habe ich in meinen Mitbewohnerinnen und Tenniskolleginnen zwei tolle Freundinnen gefunden, die sogar mal mit mir in der Stadt waren. Ich lerne die De La Salle Brüder kennen, die hier leben, habe Klavierunterricht und darf mit zwei ProfessorInnen an Forschungsprojekten arbeiten. Und natürlich freue ich mich die ganze Woche, wieder nach Chicago zu kommen.
So lebe ich momentan in zwei Welten und lerne völlig verschiedene Perspektiven auf die USA und auf die Welt kennen. Völlig unterschiedliche Orte, Lebensmodelle, Einstellungen, Werte. Aus dem einen Fenster blicke ich auf die Parkplätze und Sportanlagen der Lewis University, aus dem anderen auf Downtown Chicago und den Lake Michigan. Und ich verstehe immer mehr, wie wertvoll genau das ist. Manchmal kommt es anders als erwartet, manchmal enttäuschend, manchmal überraschend, und manchmal atemberaubend schön. Und es lohnt sich so sehr, diesen Weg zu gehen. Denn mit jedem Perspektivwechsel geht die Chance einher, die Welt ein kleines bisschen besser zu verstehen.
Julia Hütte
(Griesemert)