Gedanken zum Tag — 27. Oktober 2021 — Mitt­woch der 30. Woche im Jahreskreis

27. Okt. 2021

Perspek­tiv­wechsel

“Du siehst nicht wirk­lich die Welt, wenn du sie nur durch dein eigenes Fenster siehst”. Dieses ukrai­ni­sche Sprich­wort von meiner Mann­schafts­kol­legin habe ich in den letzten Wochen immer besser verstanden.

Von Bonn aus bin ich im Sommer mit einem Tennis­sti­pen­dium in die USA geflogen. Letztes Mal habe ich über das “Hori­zont erwei­tern” geschrieben und voller Vorfreude auf diese neue Erfah­rung geblickt. Als ich aus dem Fenster des Flug­zeuges zum ersten Mal auf Chicago schaute, hatte ich klare Vorstel­lungen und Hoff­nungen für mein Auslands­jahr. Doch dann kam vieles anders, uner­wartet, und auch enttäuschend.

Die ersten paar Wochen würde ich die Welt­stadt Chicago zunächst nicht wieder­sehen und einen Kultur­schock erleben, den ich nicht erwartet hatte. Ich kam an einem leeren Campus an, zog in ein leeres Wohn­heim ein und stellte schnell fest, dass hier wenig los ist. Über Corona ist vieles einge­schlafen, sodass vom typi­schen College-Leben nicht mehr viel übrig ist. Veran­stal­tungen gibt es kaum und die meisten Studie­renden wohnen bei ihren Eltern. Die katho­li­sche Privatuni liegt zwar in einer Vorstadt von Chicago, hat jedoch mit Groß­stadt nicht viel zu tun. Ohne Auto kommt man noch nicht einmal zum Super­markt, der Campus ist nur von Zäunen und Bundes­straßen umgeben. Es gibt überall Fast-Food, Plastik und Cola. Den Menschen merkt man ganz deut­lich die typi­sche Midwest-Menta­lität an. Gesprächs­themen außer­halb der Uni sind schwierig und es gibt wenig Inter­esse für fremde Kulturen, Ideen, poli­ti­sche Meinungen, etc. In der „bible study“ merke ich, wie unter­schied­lich wir unseren Glauben leben und verstehen. Das Inter­esse, den Campus zu verlassen ist gering und auch nach drei Wochen hatte ich noch niemanden gefunden, der mit mir nach Chicago fahren wollte.

Frus­triert entschied ich, das Aben­teuer Chicago auf eigene Faust in Angriff zu nehmen: Eine Fahrt mit einem uralten ruckelnden Zug. Später blickte ich aus dem Fenster und fand mich in einer anderen Welt wieder. Umgeben von Wolken­krat­zern tauchte ich ein in die Stadt, deren Diver­sität, Größe, Kultur, Offen­heit und Atmo­sphäre mich sofort faszi­nierte. Über ein Studie­ren­den­netz­werk freun­dete ich mich mit zwei Bonner Alumni vor Ort an. Gemeinsam haben wir schon alle mögli­chen Restau­rants auspro­biert, sind die Küste entlang im Lake Michigan geschwommen, haben Frisbee im Lincoln Park gespielt, waren bis früh morgens feiern, auf einem Jazz­fes­tival, im Kunst­mu­seum, Bowling und Tisch­tennis spielen, waren Essen im 90. Stock­werk eines Hoch­hauses, Joggen mit Blick auf die Skyline, bei einer Licht­show am River­walk, im Zoo, und noch viel mehr. Ich traf Menschen, deren Erfolg sie in die USA gebracht und zu Millio­nären gemacht hat, und lernte durch Zufall einen richtig span­nenden Menschen aus South Side, dem Problem­viertel der Stadt kennen. Er hat mit mir seine Perspek­tive als Afro-Ameri­kaner geteilt, mir von seiner Frus­tra­tion über Rassismus und Politik, über ungleiche Chancen und Vorur­teile erzählt.

Sonn­tags abends geht es dann zurück an die Lewis Univer­sity. Die Woche besteht für mich ganz viel aus Tennis­trai­ning. Das Sport­pro­gramm ist exzel­lent und es macht richtig Spaß, den Team­geist und die Moti­va­tion hier zu erleben. Wir trai­nieren ein bis zwei Mal am Tag für mehrere Stunden und fahren regel­mäßig auf Turniere zur Saison­vor­be­rei­tung. Mein Stun­den­plan ist auf das Trai­ning abge­stimmt und die Tennis­plätze liegen direkt auf dem Campus. Eine Chance, die man in Deutsch­land nicht bekommen kann.

Der zweite große Teil ist natür­lich die Uni. Wobei, eigent­lich fühlt es sich eher an wie Schule. Ganz kleine Kurse, die Profes­soren kennen jeden persön­lich und es gibt Haus­auf­gaben. Man wählt ganz verschie­dene Fächer und in manchen davon lang­weile ich mich mit Wahr­schein­lich­keits­spiel­chen, die wir am Fran­zis­kus­gym­na­sium in der Mittel­stufe gemacht haben. Die Infor­matik hingegen ist inso­fern heraus­for­dernd, dass sie viel prak­ti­scher orien­tiert ist als in Deutsch­land. Während mathe­ma­tisch ganz wenig Grund­ver­ständnis voraus­ge­setzt wird, müssen wir viel program­mieren. So ist es unter­for­dernd und heraus­for­dernd zugleich und konfron­tiert mich mit einer ganz unge­wohnten Perspek­tive auf mein Studi­en­fach Informatik.

Auch wenn es mir manchmal schwer­fällt, versuche ich auch auf dem Campus die Dinge positiv anzu­gehen und so viel wie möglich aus dieser Erfah­rung mitzunehmen.

Glück­li­cher­weise habe ich in meinen Mitbe­woh­ne­rinnen und Tennis­kol­le­ginnen zwei tolle Freun­dinnen gefunden, die sogar mal mit mir in der Stadt waren. Ich lerne die De La Salle Brüder kennen, die hier leben, habe Klavier­un­ter­richt und darf mit zwei Profes­so­rInnen an Forschungs­pro­jekten arbeiten. Und natür­lich freue ich mich die ganze Woche, wieder nach Chicago zu kommen.

So lebe ich momentan in zwei Welten und lerne völlig verschie­dene Perspek­tiven auf die USA und auf die Welt kennen. Völlig unter­schied­liche Orte, Lebens­mo­delle, Einstel­lungen, Werte. Aus dem einen Fenster blicke ich auf die Park­plätze und Sport­an­lagen der Lewis Univer­sity, aus dem anderen auf Down­town Chicago und den Lake Michigan. Und ich verstehe immer mehr, wie wert­voll genau das ist. Manchmal kommt es anders als erwartet, manchmal enttäu­schend, manchmal über­ra­schend, und manchmal atem­be­rau­bend schön. Und es lohnt sich so sehr, diesen Weg zu gehen. Denn mit jedem Perspek­tiv­wechsel geht die Chance einher, die Welt ein kleines biss­chen besser zu verstehen.

Julia Hütte
(Grie­se­mert)

 

 

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