„Der Mai ist gekommen,
die Bäume schlagen aus.
Da bleibe, wer Lust hat,
mit Sorgen zu Haus!
Wie die Wolken dort wandern
am himmlischen Zelt,
so steht auch mir der Sinn
in die weite, weite Welt.“
Der 1. Mai war für mich immer ein besonderer Tag. Mit vielen bunten Traditionen feiern wir mit Familie oder Freunden alljährlich den Beginn der wärmeren Jahreszeit.
Dieses Jahr nicht.
Kein „Tanz-in-den-Mai“-Fest, kein Kurztrip in ein schönes langes Wochenende, keine Gruppen-Wanderung mit Bollerwagen und kühlen Getränken. Ja, auch mir steht „der Sinn in die weite, weite Welt“, aber dieses Jahr bleiben wir stattdessen „mit Sorgen zu Haus“ — auch, wenn wir dazu eigentlich keine Lust haben, um es etwas überspitzt mit den Worten von Emanuel Geibel aus dem bekannten Volkslied auszudrücken. Immer noch heißt es Kontaktverbot, Stayhome, Maskenpflicht, Abstand halten und obwohl einige Lockerungen in Aussicht stehen, gerät meine Geduld nun doch gelegentlich an Grenzen.
Geduld. Ein Zauberwort in dieser Zeit. Und eine große Lernaufgabe. Geduld ist eine Tugend, die in unserer hektischen Zeit oft auf der Strecke bleibt. Wir sind das Warten nicht mehr gewohnt. Durch Handy und Internet sind wir mobil und erreichbar, so dass Wartezeiten auf ein Minimum reduziert werden. Beide helfen uns jetzt vielleicht beim Home Office, aber ansonsten ist in dieser Krise nichts mehr so, wie wir uns das vorstellen. Unser gewohntes Leben hat Pause.
Die Bibel lobt die Geduld als Frucht des Heiligen Geistes (Gal 5,22), die von allen Anhängern Christi hervorgebracht werden sollte (1.Thess 5,14). Geduld zeigt unser Vertrauen auf Gottes Timing, seine Allmacht und Liebe. Das ist jetzt gefragt!
Oder wie es der heilige Franz von Sales schreibt: „Was wir brauchen ist ein Becher voll Verstehen, hunderttausend Liter Liebe und einen Ozean voll Geduld.“ Jetzt heißt es annehmen, loslassen und vertrauen.
Es liegt an uns, ob wir uns von den Gefühlen mitreißen lassen, oder ob wir auch bei stürmischster See unser inneres Gleichgewicht bewahren.
Ich wünsche uns allen, dass wir trotz dieser schwierigen Zeit auch weiterhin ganz viel Schönes entdecken, als Familien zusammenrücken, neue Hobbies und Talente finden, die heimische Natur erleben, die Sonne genießen und vielleicht mal Briefe schreiben.
Vielleicht können wir Dinge ordnen, Gefühle zum Ausdruck bringen, Ruhe finden, wieder bei uns selbst ankommen und auftanken, um dem Alltag mit neuer Kraft zu begegnen. Ich wünsche uns, dass wir gesund bleiben, dass wir Geduld haben und vor allem Gottvertrauen! Vielleicht kann uns der untenstehende Text meines Lieblingsdichters einen neuen Blickwinkel schenken.
Einen guten Start in den Mai wünscht Ihnen
Gerlind Kaptain
Über die Geduld
Man muss den Dingen
die eigene, stille,
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann;
alles ist austragen –
und dann gebären…
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind,
als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit …
Man muss Geduld haben,
mit dem Ungelösten im Herzen
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages in die Antwort hinein.
(Rainer Maria Rilke)