Weihnachten 2023
Seit 1972 liefert die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung – kurz KMU – alle zehn Jahre spannende Erkenntnisse rund um die Themen Kirchenmitgliedschaft und Religion. 2023 erschien die sechste Ausgabe der KMU. Erstmals wurden nicht nur evangelische Kirchenmitglieder und Konfessionslose, sondern auch Katholiken und Katholikinnen befragt.
Die Ergebnisse der Studie (KMU 6, Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig 2023) sind aufschlussreich und schonungslos zugleich. So nehmen die religiöse Bindung und das Vertrauen der Menschen in die Kirchen in Deutschland weiter ab. Der lange Zeit weit verbreitete Slogan „Glaube ja – Kirche nein“ scheint sich in Richtung „Glaube nein – Kirche erst recht nicht“ zu entwickeln.
In dieser Momentaufnahme der Zeitgeschichte feiern viele Menschen wieder Weihnachten. Zunächst hatte ich überlegt, liebe Leserinnen und Leser, ob ich überhaupt an Weihnachten etwas zur Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung sage. Das Fest sollte nicht mit schwierigen Themen belastet werden. „Das passt nicht zur Festtagsstimmung, Herr Pfarrer!“ höre ich den einen oder die andere sagen. „Und außerdem gibt es nach wie vor immer noch viel Gutes in der Welt!“ – Das ist richtig, aber geht es hier nicht um den Kern der Weihnacht? Ich möchte mir nicht ausdenken, was wäre, wenn außer Lichterglanz, Weihnachtsbaum und Weihnachtsgeschenken absehbar keiner mehr von der Geburt eines besonderen Kindes in der Krippe von Bethlehem sprechen würde? Und was würde geschehen, wenn niemand mehr davon erfährt, dass Gott die Menschen so wichtig waren und sind, dass er selbst vor gut 2000 Jahren Mensch wurde? Gibt es dann absehbar eine Welt ohne Gott, als Erdball ziel‑, sinn- und freudlos im Weltall treibend?
Vor wenigen Wochen machte mich jemand auf die Tagebücher von Etty Hillesum (1914–1943) aufmerksam. Sie war eine niederländisch-jüdische Intellektuelle. Während der deutschen Besetzung der Niederlande führte sie in den Jahren 1941 bis 1943 ein Tagebuch und hinterließ Briefe, worin sich ihre menschliche und geistliche Entwicklung unter den Bedingungen von Krieg und Verfolgung in Zeiten der Schoah widerspiegeln. Sie geben Zeugnis von einer beeindruckenden Frau, die trotz zu erwartender Aussichtslosigkeit den Glauben nicht aufgibt.
Im sogenannten Sonntagmorgengebet schreibt Etty Hillesum unter anderem:
„Es sind beängstigende Zeiten, mein Gott. Heute Nacht lag ich zum ersten Mal mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln und viele Bilder menschlichen Leidens zogen an mir vorbei. … . Ich werde dir helfen, Gott, dass du nicht in mir zugrunde gehst, aber ich kann im Voraus für nichts garantieren. Aber eines wird mir immer klarer: Dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns selbst. Und das ist das Einzige, was wir in dieser Zeit bewahren können, und auch das Einzige, auf das es ankommt: ein kleines Stück von dir in uns selbst, Gott. Und vielleicht können wir auch mithelfen, dich in den geplagten Herzen anderer zutage zu fördern.“ (Sonntagmorgengebet, Etty Hillesum: Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941–1943, Hg. von Klaas A.D. Smelik, München 2023, S. 620ff)
Nicht etwa, dass Gott den Menschen hilft. Nein umgekehrt, Gott wird durch Menschen geholfen. Dieser überraschende, nicht in das geläufige Gottesbild passende Gedanke von Etty Hillesum ist meines Erachtens ein zutiefst weihnachtlicher. Der Gott der Christen begegnet der Welt im hilflosen Kind von Bethlehem. Kinder brauchen Fürsorge, brauchen Liebe. Die Sprache der Liebe ist die Art, wie Gott zu den Menschen redet. Er begibt sich vom Himmel nach unten auf die Erde, um ganz nah bei ihnen zu sein. So nah, dass ihn seine nie endende Liebe ohnmächtig und wehrlos macht. Es ist wie bei liebenden Menschen, die sich freiwillig in die Hände des jeweils anderen begeben. Dadurch werden sie empfindsam und verletzlich, müssen damit rechnen, abgelehnt zu werden. Das göttliche Kind fordert mit anderen Worten heraus, bittet die Menschen um Hilfe.
Nicht nur an Weihnachten sind Glaubende eingeladen, den Mitmenschen von der Liebe Gottes in Wort und Tat zu erzählen. Es sind die Armen und Entrechteten, an den Rand Gedrängten, welche die Liebe am meisten brauchen. Es sind vor allem jene, die die Hoffnung aufgegeben haben.
Ich wünsche Ihnen auch im Namen des Pastoralteams den Mut, nicht darin nachzulassen, Gott zu helfen, dass er auf der Erde ankommt, verbunden mit herzlichen Segenswünschen zum Weihnachtsfest und zum bevorstehenden Jahreswechsel.
Ihr Johannes Hammer, Pfr.
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