Gedanken zum Tag – 24. Dezember 2023 – Vierter Advents­sonntag — Heiliger Abend

24. Dez 2023

Weih­nachten 2023

Seit 1972 liefert die Kirchen­mit­glied­schafts­un­ter­su­chung – kurz KMU – alle zehn Jahre span­nende Erkennt­nisse rund um die Themen Kirchen­mit­glied­schaft und Reli­gion. 2023 erschien die sechste Ausgabe der KMU. Erst­mals wurden nicht nur evan­ge­li­sche Kirchen­mit­glieder und Konfes­si­ons­lose, sondern auch Katho­liken und Katho­li­kinnen befragt.

Die Ergeb­nisse der Studie (KMU 6, Evan­ge­li­sche Verlags­an­stalt GmbH, Leipzig 2023) sind aufschluss­reich und scho­nungslos zugleich. So nehmen die reli­giöse Bindung und das Vertrauen der Menschen in die Kirchen in Deutsch­land weiter ab. Der lange Zeit weit verbrei­tete Slogan „Glaube ja – Kirche nein“ scheint sich in Rich­tung „Glaube nein – Kirche erst recht nicht“ zu entwickeln.

In dieser Moment­auf­nahme der Zeit­ge­schichte feiern viele Menschen wieder Weih­nachten. Zunächst hatte ich über­legt, liebe Lese­rinnen und Leser, ob ich über­haupt an Weih­nachten etwas zur Kirchen­mit­glied­schafts­un­ter­su­chung sage. Das Fest sollte nicht mit schwie­rigen Themen belastet werden. „Das passt nicht zur Fest­tags­stim­mung, Herr Pfarrer!“ höre ich den einen oder die andere sagen. „Und außerdem gibt es nach wie vor immer noch viel Gutes in der Welt!“ – Das ist richtig, aber geht es hier nicht um den Kern der Weih­nacht? Ich möchte mir nicht ausdenken, was wäre, wenn außer Lich­ter­glanz, Weih­nachts­baum und Weih­nachts­ge­schenken absehbar keiner mehr von der Geburt eines beson­deren Kindes in der Krippe von Beth­lehem spre­chen würde? Und was würde geschehen, wenn niemand mehr davon erfährt, dass Gott die Menschen so wichtig waren und sind, dass er selbst vor gut 2000 Jahren Mensch wurde? Gibt es dann absehbar eine Welt ohne Gott, als Erdball ziel‑, sinn- und freudlos im Weltall treibend?

Vor wenigen Wochen machte mich jemand auf die Tage­bü­cher von Etty Hillesum (1914–1943) aufmerksam. Sie war eine nieder­län­disch-jüdi­sche Intel­lek­tu­elle. Während der deut­schen Beset­zung der Nieder­lande führte sie in den Jahren 1941 bis 1943 ein Tage­buch und hinter­ließ Briefe, worin sich ihre mensch­liche und geist­liche Entwick­lung unter den Bedin­gungen von Krieg und Verfol­gung in Zeiten der Schoah wider­spie­geln. Sie geben Zeugnis von einer beein­dru­ckenden Frau, die trotz zu erwar­tender Aussichts­lo­sig­keit den Glauben nicht aufgibt.

Im soge­nannten Sonn­tag­mor­gen­gebet schreibt Etty Hillesum unter anderem:
„Es sind beängs­ti­gende Zeiten, mein Gott. Heute Nacht lag ich zum ersten Mal mit bren­nenden Augen schlaflos im Dunkeln und viele Bilder mensch­li­chen Leidens zogen an mir vorbei. … . Ich werde dir helfen, Gott, dass du nicht in mir zugrunde gehst, aber ich kann im Voraus für nichts garan­tieren. Aber eines wird mir immer klarer: Dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns selbst. Und das ist das Einzige, was wir in dieser Zeit bewahren können, und auch das Einzige, auf das es ankommt: ein kleines Stück von dir in uns selbst, Gott. Und viel­leicht können wir auch mithelfen, dich in den geplagten Herzen anderer zutage zu fördern.“ (Sonn­tag­mor­gen­gebet, Etty Hillesum: Ich will die Chro­nistin dieser Zeit werden. Sämt­liche Tage­bü­cher und Briefe 1941–1943, Hg. von Klaas A.D. Smelik, München 2023, S. 620ff)

Nicht etwa, dass Gott den Menschen hilft. Nein umge­kehrt, Gott wird durch Menschen geholfen. Dieser über­ra­schende, nicht in das geläu­fige Gottes­bild passende Gedanke von Etty Hillesum ist meines Erach­tens ein zutiefst weih­nacht­li­cher. Der Gott der Christen begegnet der Welt im hilf­losen Kind von Beth­lehem. Kinder brau­chen Fürsorge, brau­chen Liebe. Die Sprache der Liebe ist die Art, wie Gott zu den Menschen redet. Er begibt sich vom Himmel nach unten auf die Erde, um ganz nah bei ihnen zu sein. So nah, dass ihn seine nie endende Liebe ohnmächtig und wehrlos macht. Es ist wie bei liebenden Menschen, die sich frei­willig in die Hände des jeweils anderen begeben. Dadurch werden sie empfindsam und verletz­lich, müssen damit rechnen, abge­lehnt zu werden. Das gött­liche Kind fordert mit anderen Worten heraus, bittet die Menschen um Hilfe.

Nicht nur an Weih­nachten sind Glau­bende einge­laden, den Mitmen­schen von der Liebe Gottes in Wort und Tat zu erzählen. Es sind die Armen und Entrech­teten, an den Rand Gedrängten, welche die Liebe am meisten brau­chen. Es sind vor allem jene, die die Hoff­nung aufge­geben haben.

Ich wünsche Ihnen auch im Namen des Pasto­ral­teams den Mut, nicht darin nach­zu­lassen, Gott zu helfen, dass er auf der Erde ankommt, verbunden mit herz­li­chen Segens­wün­schen zum Weih­nachts­fest und zum bevor­ste­henden Jahreswechsel.

Ihr Johannes Hammer, Pfr.

 


Wenn Sie, liebe Lese­rinnen und Leser, auch solche Gedanken über das Leben oder über irgend­etwas anderes haben, dann schreiben Sie es auf und schi­cken es uns. Wir geben ihre Gedanken gerne im Tages­im­puls an andere weiter. Sie können uns schreiben unter gedankenzumtag@gmx.de .

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