Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Mitglieder unserer Gemeinden,
vor mehr als 50 Jahren habe ich in Tübingen studiert. Kurz vor Weihnachten war es, bald würde ich mit dem Zug nach Hause fahren. Am Samstagmorgen kam ich vom Friseur, da fand ich in meinem Studentenzimmer einen Zettel vom Vermieter: Bitte sofort zu Hause melden. Ihr Vater ist tot.
Ich habe aus dem Fenster geschaut, ins Tal hinunter, das weiß ich noch, und die Zeit ist stehengeblieben.
Das Melden war nicht so einfach. Zuhause gab es kein Telefon. Und ich hatte ja auch keines. Den langen Weg zum Bahnhof bin ich dann gegangen, habe eine Fahrkarte besorgt für die Nacht, habe gepackt und bin los.
Am Morgen war ich da – und habe mich um die Beerdigung gekümmert. Es langte gerade noch vor den Festtagen. Und dann war Weihnachten. Irgendwie. –
Aus anderer Perspektive habe ich Ähnliches noch öfter erlebt. Als Pfarrer habe ich an Heiligabend Sterbeprozesse begleitet, die Krankensalbung gespendet, Zeiten „auf Intensiv“ verbracht. Den Kopf hatte ich voll von all dem, wenn ich nach Hause kam. Aber es gab auch eine innere Zufriedenheit, eine stille Freude: Darüber, in das Dunkel hinein ein „Ich bin da“ setzen zu dürfen, eines, das letztlich nicht von mir kommt. Und gerade in das Dunkel.
Weihnachten ist bei uns kulturell und folkloristisch ein Fest der Heimeligkeit, des Lichterglanzes, der Familie und schon auch der Sehnsucht nach der heilen Welt. Wenn ich auf meinem Balkon stehe, sehe ich ganz nah das Krankenhaus. Ich sehe in der Stadt viele Fenster, von denen ich weiß, dass dort jemand allein ist. Vereinsamt wegen Corona. Oder eine Familie zerbricht oder zerbrochen ist. Bei der Weihnachtsvisite im Krankenhaus, die dieses Jahr leider ausfallen muss, fließt versteckt so manche Träne.
Wenn ich dann darauf hinweise, dass der Stall in Betlehem auch eher Notbehelf war, seine Dunkelheiten hatte, trifft mich manch erstaunter Blick. Manchmal ein Lächeln.
In unsere Dunkelheiten kommt Gott. Das ist Weihnachten. An der Krippe ist jeder willkommen. Die, die feiern mögen. Die, die ihre Sorgen hinter sich lassen können und froh sind. Und auch die, die sich schwertun – mit all dem was sie drückt.
Die Weihnachtsfreude darüber ist eher leise. Vielleicht findet sie Sie ja.
Ihr
Clemens Steiling