Die Jünger Jesu sind keine Übermenschen. Sie verlassen die Heilige Stadt samt Tempel, denn Jerusalem war für sie zu einem Ort der Katastrophe geworden. Zwei von ihnen sind auf dem Weg in das sechzig Stadien, etwa 12 Kilometer, entfernte Dorf Emmaus (Lk 24,13–35). Der eine heißt Kleopas, seine Begleitung bleibt namenlos. „Die christliche Tradition hat den Gefährten des Kleopas als einen Mann betrachtet. Weil der Evangelist gerne einen Mann und eine Frau Seite an Seite darstellt (vgl. 1,5–38 und 15,3–10), hat er sich vielleicht vorgestellt, die zweite Person sei eine Frau gewesen.“ (François Bovon)
Im Gespräch lassen die beiden die furchtbaren Augenblicke der letzten Tage Revue passieren. Die harte Wirklichkeit des Karfreitags hat bei ihnen jede Hoffnung zerstört. Mit Jesus sind ihre Wünsche und Zukunftsvorstellungen gekreuzigt worden. Ein Abschnitt ihres Lebens wurde vergebens gelebt. Mit Jesus wurde ihr bisheriges Leben begraben: tot ist und bleibt tot.
Aus der Tradition allein finden die furchtbaren Ereignisse keine überzeugende Deutung. Jesus, der sich ihnen unbekannt auf dem Weg zugesellt, deutet die Schriften Israels, versucht, ihnen zu erschließen, dass der Karfreitag im Plan Gottes mit den Menschen einen Platz hat. Doch das alles passt nicht in ihre Vorstellungen. Sie sind es gewohnt, anders von Gott und seinem Handelns in der Welt zu denken. Dennoch ist da etwas mit dem Fremden, und so ergeht am Ziel des Weges die Einladung – nicht fast zufällig und beiläufig, sondern eher freundlich-drängend: „Bleibe bei uns, denn es wird Abend, der Tag hat sich schon geneigt.“
Beim Mahl erkennen dann die beiden, was ihnen bislang verschlossen war. Der, den sie eingeladen haben, wird zum Gastgeber. Er nimmt Brot, dankt, bricht das Brot und gibt es ihnen. Das haben sie häufig mit Jesus erlebt. So hat er die wunderbare Speisung der Fünftausend begonnen (Lk 9,16), und so hat er im Abendmahlssaal mit seinen Jüngern Mahl gehalten (Lk 22,19). Augenblicklich stellt sich bei ihnen ein vertrautes Bild ein: Jesus hält mit seinen Jüngern Mahl. Das hat er zu seinen Lebzeiten getan, das ist in seinem Tod nicht abgerissen, es wurde nur unterbrochen. Der gekreuzigte Jesus lebt.
Das Zeugnis der Frauen am Ostermorgen erweist sich als wahr (Lk 24,9–11) und die beiden erkennen in der Kraft der Mahlgemeinschaft, dass ihnen bereits unterwegs während des Gesprächs mit Jesus und seiner Schriftauslegung das Herz brannte. Auch nach dem Karfreitag gibt es Jesusgemeinschaft und Jesusnachfolge. In der Christengemeinde wird das in der Feier mit Brot und Wein erlebt, denn in ihr gibt sich Jesus als der Lebende und Lebendige zu erkennen. Das Brot nehmen, danken, das Brot teilen: Wie in einem Brennglas verdichtet sich in dieser Handlung Jesu Lebensstil: Sich geben für andere, sich in seiner Liebe verströmen, Brot werden: einer nährt den andern.
Warum bleibt der das Brot brechende Jesus nicht? Jesu Licht brennt in dieser Welt allein mit dem Öl unseres Lebens. Als Gastgeber reicht er uns Brot und Wein, damit wir mit ihm die Gastfreundschaft des Alltäglichen lernen, lieben lernen und leben.
Prof. Dr. Wolfgang Werner