Gedanken zum Tag – 12. Juli 2020, 15. Sonntag im Jahreskreis

12. Juli 2020

Nur die Not zeigt den wahren Charakter

In seiner Samm­lung „Durch die Lupe“ lässt uns Alex­ander Otto Weber Anfang des 20. Jahr­hun­derts das wissen, was sein Leser Helmuth Schmidt ins tages­ak­tu­elle „In der Krise beweist sich der Charakter“ über­setzte. Nun, eine Krise hatten wir und haben wir, und sie wird in diesem Sinne ihrem Ruf gerecht.

Die Pandemie des SARS-Coro­na­vi­rus‑2 hat sich langsam, aber allum­fas­send in unser Leben geschoben. Anders, als bei so denk­wür­digen Einzel­daten wie dem 9. November 1989 oder dem 11. September 2001, ist es nicht so sehr die Erin­ne­rung an den Moment, und wie sich dieser und die folgende Zeiten­wende im eigenen Leben wieder­findet. Mehr scheint es ein Bewusst­sein der eigenen Werte und des eigenen Menschen­bildes zu sein, das sich in unser Leben hineindrängt.

Denn diese Krise hinter­fragt unsere Werte-Funda­mente. Was ist uns ein Leben wert? Wie viele Tote wären für wieviel Einschrän­kung, für wieviele Arbeits­plätze, für wieviel Frei­heit gerecht­fer­tigt? Ist mir „der Fremde“ oder „der Andere“ eine Berei­che­rung und Stütze, oder eine Bedrohung?

Ganz konkret haben wir im Kran­ken­haus diese Fragen erlebt. Frei von der Bürde der Entschei­dung über „Lock-Down“ oder „Rück­kehr“ ging es stets um die aktu­ellen Probleme von Menschen. Ange­hö­rige, die zum Schutz über Wochen ihre erkrankten, geliebten Menschen nicht sehen durften und bisweilen nicht einmal spre­chen konnten. Menschen, die ihre Ange­hö­rigen an das Virus verloren. Anders, als bei dem „normalen“ Versterben, aber auch die uns stüt­zenden und beglei­tenden Riten nicht wie gewohnt voll­ziehen konnten. So wurde Ihnen nicht nur die Indi­vi­dua­lität des Verlustes durch die Allge­mein­heit der Pandemie genommen, sondern auch die Möglich­keit, „richtig“ Abschied zu nehmen.

Eine Erkran­kung mit dem Virus blieb zum Glück für viele eine theo­re­ti­sche Gefahr. Aus Berichten aber war klar, dass wie zu Zeiten der mittel­al­ter­li­chen Pest aber für dieje­nigen, die sich um Erkrankte sorgten, ein beson­ders hohes Risiko der Infek­tion bestand. Zudem die Schutz­mit­tel­knapp­heit im Kran­ken­haus in den ersten Monaten kaum geringer war als überall. So gab es genug Pfle­gende, Thera­peuten, Reini­gungs­kräfte und Medi­ziner, die sich fragten, ob sie ruhig nach der Arbeit nach Hause gehen konnten. Zu ihren Kindern und Groß­el­tern. Oder ob sie, jenseits des Risikos für das eigene Leben, das ihrer Ange­hö­rigen gefährden.

Und wie auch anderswo in der Gesell­schaft gab es Bereiche, in denen mangels Aufgaben zu viel Ruhe herr­schen musste, und andere, in denen es nicht genug Hände und Ausrüs­tung geben konnte.

In dieser Heraus­for­de­rung der Person und des Handelns geht es nicht anders, als dass die eigenen Werte klar und sichtbar werden. Für sich selbst und für andere. Es zeigt sich eben der Charakter. Und sowohl wertend als auch ganz wertungs­frei lernt man so viel über sich selbst und sein Gegen­über. Was ist da mir oder jemandem wichtig und was nicht? Wie sehr bin ich Teil einer Lösung, oder Teil eines Problems? Wo kann und wo will ich mich einbringen, und mit welcher Haltung tue ich dies? Mit welchen Worten und welchen Taten trete ich meinem Nächsten gegenüber?

Beson­ders eindrück­lich erin­nere ich eine Kran­ken­schwester, die sich auf der Arbeit ange­steckt hatte, aber unbe­schadet wieder gesund wurde. Sie war eigent­lich nicht direkt an der Versor­gung der nach­weis­lich Erkrankten betei­ligt, war aber Teil einer zunächst uner­kannten Erkran­kungs­kette geworden. Schon während ihrer Erkran­kung hatte sie von den Thera­pie­ver­su­chen mit Spen­der­plasma gehört. Dabei spenden Menschen, die eine Infek­tion über­standen haben, Blut, aus dem Plasma und damit Anti­körper gegen das Virus gewonnen werden. Nach Ihrer Rück­kehr in den Job nahm sie Kontakt mit einer Univer­si­täts­klinik auf, an der in diesem Feld geforscht wurde, und stellte sich als frei­wil­lige Spen­derin zur Verfü­gung. Mit dem eigenen Schicksal so umzu­gehen sagt unwei­ger­lich etwas über einen Menschen aus.

Deshalb möchte ich mit einem Zitat von Phil Bosmans enden.

„Wenn die Krise alles verfins­tert hat, werden Kinder des Lichts die Sterne anzünden.“

Dr. Matthias Danz, St.-Martinus-Hospital

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