Nur die Not zeigt den wahren Charakter
In seiner Sammlung „Durch die Lupe“ lässt uns Alexander Otto Weber Anfang des 20. Jahrhunderts das wissen, was sein Leser Helmuth Schmidt ins tagesaktuelle „In der Krise beweist sich der Charakter“ übersetzte. Nun, eine Krise hatten wir und haben wir, und sie wird in diesem Sinne ihrem Ruf gerecht.
Die Pandemie des SARS-Coronavirus‑2 hat sich langsam, aber allumfassend in unser Leben geschoben. Anders, als bei so denkwürdigen Einzeldaten wie dem 9. November 1989 oder dem 11. September 2001, ist es nicht so sehr die Erinnerung an den Moment, und wie sich dieser und die folgende Zeitenwende im eigenen Leben wiederfindet. Mehr scheint es ein Bewusstsein der eigenen Werte und des eigenen Menschenbildes zu sein, das sich in unser Leben hineindrängt.
Denn diese Krise hinterfragt unsere Werte-Fundamente. Was ist uns ein Leben wert? Wie viele Tote wären für wieviel Einschränkung, für wieviele Arbeitsplätze, für wieviel Freiheit gerechtfertigt? Ist mir „der Fremde“ oder „der Andere“ eine Bereicherung und Stütze, oder eine Bedrohung?
Ganz konkret haben wir im Krankenhaus diese Fragen erlebt. Frei von der Bürde der Entscheidung über „Lock-Down“ oder „Rückkehr“ ging es stets um die aktuellen Probleme von Menschen. Angehörige, die zum Schutz über Wochen ihre erkrankten, geliebten Menschen nicht sehen durften und bisweilen nicht einmal sprechen konnten. Menschen, die ihre Angehörigen an das Virus verloren. Anders, als bei dem „normalen“ Versterben, aber auch die uns stützenden und begleitenden Riten nicht wie gewohnt vollziehen konnten. So wurde Ihnen nicht nur die Individualität des Verlustes durch die Allgemeinheit der Pandemie genommen, sondern auch die Möglichkeit, „richtig“ Abschied zu nehmen.
Eine Erkrankung mit dem Virus blieb zum Glück für viele eine theoretische Gefahr. Aus Berichten aber war klar, dass wie zu Zeiten der mittelalterlichen Pest aber für diejenigen, die sich um Erkrankte sorgten, ein besonders hohes Risiko der Infektion bestand. Zudem die Schutzmittelknappheit im Krankenhaus in den ersten Monaten kaum geringer war als überall. So gab es genug Pflegende, Therapeuten, Reinigungskräfte und Mediziner, die sich fragten, ob sie ruhig nach der Arbeit nach Hause gehen konnten. Zu ihren Kindern und Großeltern. Oder ob sie, jenseits des Risikos für das eigene Leben, das ihrer Angehörigen gefährden.
Und wie auch anderswo in der Gesellschaft gab es Bereiche, in denen mangels Aufgaben zu viel Ruhe herrschen musste, und andere, in denen es nicht genug Hände und Ausrüstung geben konnte.
In dieser Herausforderung der Person und des Handelns geht es nicht anders, als dass die eigenen Werte klar und sichtbar werden. Für sich selbst und für andere. Es zeigt sich eben der Charakter. Und sowohl wertend als auch ganz wertungsfrei lernt man so viel über sich selbst und sein Gegenüber. Was ist da mir oder jemandem wichtig und was nicht? Wie sehr bin ich Teil einer Lösung, oder Teil eines Problems? Wo kann und wo will ich mich einbringen, und mit welcher Haltung tue ich dies? Mit welchen Worten und welchen Taten trete ich meinem Nächsten gegenüber?
Besonders eindrücklich erinnere ich eine Krankenschwester, die sich auf der Arbeit angesteckt hatte, aber unbeschadet wieder gesund wurde. Sie war eigentlich nicht direkt an der Versorgung der nachweislich Erkrankten beteiligt, war aber Teil einer zunächst unerkannten Erkrankungskette geworden. Schon während ihrer Erkrankung hatte sie von den Therapieversuchen mit Spenderplasma gehört. Dabei spenden Menschen, die eine Infektion überstanden haben, Blut, aus dem Plasma und damit Antikörper gegen das Virus gewonnen werden. Nach Ihrer Rückkehr in den Job nahm sie Kontakt mit einer Universitätsklinik auf, an der in diesem Feld geforscht wurde, und stellte sich als freiwillige Spenderin zur Verfügung. Mit dem eigenen Schicksal so umzugehen sagt unweigerlich etwas über einen Menschen aus.
Deshalb möchte ich mit einem Zitat von Phil Bosmans enden.
„Wenn die Krise alles verfinstert hat, werden Kinder des Lichts die Sterne anzünden.“
Dr. Matthias Danz, St.-Martinus-Hospital