Gedanken zum Tag – 01. November, Allerheiligen

1. Nov. 2020

Beppo, der Straßenkehrer

Auch viele unserer Ober­stu­fen­kurse im Fach Reli­gion beginnen ihre Unter­richts­stunden mit einem Impuls: Jeder Schüler soll im Laufe des Schul­jahres einen selbst ausge­suchten Text, ein Gedicht, ein Lied oder eine Geschichte, die ihn in irgend­einer Weise zum Nach­denken ange­regt haben, vorlesen. Völlig beur­tei­lungs­frei kommen die Schüler dann hinterher kurz ins Gespräch und tauschen sich über ihre Eindrücke aus.

Den aller­ersten Impuls des Schul­jahres bringe aller­dings immer ich mit und es ist immer der gleiche Text: Es geht um Beppo, den Stra­ßen­kehrer, aus dem beliebten Kinder­buch „Momo“. In dem Auszug aus dem Kinder­buch stellt Momo Beppo die Frage, wie er es nur schafft, jeden Tag eine so lange Straße zu kehren, ohne zu verzweifeln.

Beppos Antwort ist bestechend einfach: Man darf nie die ganze Straße auf einmal sehen, sondern nur den nächsten Besenstrich. Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Medi­tativ erklärt er: Schritt – Atemzug – Besenstrich. Schritt – Atemzug – Besenstrich. Und auf einmal hat man die ganze Straße fertig gekehrt.

Die Inten­tion liegt den Schü­lern meis­tens auf der Hand: Das Abitur kommt den Schü­lern wie ein großer Berg vor, vor dessen Erklimmen man Angst bekommt. Sieht man es aller­dings so wie Beppo, dann heißt das: Es werden nie alle Klau­suren auf einmal geschrieben, nicht der ganze Lern­stoff auf einmal gelehrt. Alles baut aufein­ander auf und am Ende ist das Abitur tatsäch­lich geschafft.

Und natür­lich lässt sich das auch auf viele andere Lebens­si­tua­tionen beziehen. Gerade jetzt, wo die Krise einen fest im Griff hat, wo man das Ende nicht sieht, kann der Gedanke, sich einfach nur auf den unmit­telbar nächsten Schritt zu konzen­trieren, helfen.

Und doch scheint die Angst und Bedro­hung manchmal uner­träg­lich groß. Die Dunkel­heit, die den Tag ohnehin schon immer früher heim­sucht, scheint sich auch in den Gedanken auszubreiten:

Wie lange müssen wir noch in diesem Ausnah­me­zu­stand verharren? Wie lange noch Abstand wahren und Masken tragen? Was macht das mit meiner Familie und mit unserer Gesell­schaft? Wie läuft dieses Jahr Weih­nachten ab, noch dazu ohne Dahler Krip­pen­spiel? Wird es einen Martins­umzug geben? Welche Zusam­men­künfte sind noch verant­wortbar? Wie lange kann man den Alltag meis­tern, wenn er nicht durch Feiern aufge­lo­ckert wird, wenn selbst die Vorfreude nicht mehr gegeben ist? Wie lange können Kinder­garten und Schule noch eini­ger­maßen normal geöffnet bleiben? Was bedeutet das für die Kinder? Was ist, wenn einer von uns erkrankt? Wenn die Kran­ken­häuser keine Kapa­zi­täten mehr haben? …

Ohne es beein­flussen zu können, ergibt ein Gedanke den anderen, eine Frage die nächste. Was also tun, um das Gedan­ken­ka­rus­sell anzu­halten? Und dann fällt mir wieder Beppo, der Stra­ßen­kehrer, ein. Er hat nämlich noch eine weitere heraus­ra­gende Eigenschaft:
Er ist ein ausge­zeich­neter Zuhörer und er nimmt sein Gegen­über und sein Anliegen so ernst, dass er oft gar nicht direkt antwortet, sondern manchmal sogar erst Tage später. Zum einen kann der andere so alles ausspre­chen, was er sagen möchte, und zum anderen kann man sich immer darauf verlassen, dass seine Antworten oder Ratschläge durch­dacht und nie leicht daher gesagt sind.

Leider hat ja nicht jeder einen Beppo zur Hand…

…oder viel­leicht doch? Gott ist so jemand. Man kann im Gebet alles sagen, alles los werden, man kann klagen, schimpfen, sich fürchten, hadern. Schon die Klage­psalmen des Alten Testa­ments zeugen von der Grund­er­fah­rung des Menschen mit dem Leid und wie dieses vor Gott ausge­spro­chen wird und werden muss. Bei ihm ist immer genug Raum für seine schlimmsten Sorgen, für Verzweif­lung und Angst. Und genau wie Beppo nimmt er sich für seine Antworten Zeit. Nicht immer kann man sie verstehen, aber manchmal erkennt man in der Rück­schau, wie seine Antwort gelautet hat und wir gewinnen nach und nach ein wenig Gott­ver­trauen hinzu.

In beson­ders dunklen Stunden hilft uns also viel­leicht der Gedanke an Beppo, den Stra­ßen­kehrer: Schritt – Atemzug – Besenstrich und dabei ein offenes Zwie­ge­spräch mit Gott.

Cornelia Blum-Hennecke
Lehrerin für Katho­li­sche Reli­gion am SGO

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