Beppo, der Straßenkehrer
Auch viele unserer Oberstufenkurse im Fach Religion beginnen ihre Unterrichtsstunden mit einem Impuls: Jeder Schüler soll im Laufe des Schuljahres einen selbst ausgesuchten Text, ein Gedicht, ein Lied oder eine Geschichte, die ihn in irgendeiner Weise zum Nachdenken angeregt haben, vorlesen. Völlig beurteilungsfrei kommen die Schüler dann hinterher kurz ins Gespräch und tauschen sich über ihre Eindrücke aus.
Den allerersten Impuls des Schuljahres bringe allerdings immer ich mit und es ist immer der gleiche Text: Es geht um Beppo, den Straßenkehrer, aus dem beliebten Kinderbuch „Momo“. In dem Auszug aus dem Kinderbuch stellt Momo Beppo die Frage, wie er es nur schafft, jeden Tag eine so lange Straße zu kehren, ohne zu verzweifeln.
Beppos Antwort ist bestechend einfach: Man darf nie die ganze Straße auf einmal sehen, sondern nur den nächsten Besenstrich. Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Meditativ erklärt er: Schritt – Atemzug – Besenstrich. Schritt – Atemzug – Besenstrich. Und auf einmal hat man die ganze Straße fertig gekehrt.
Die Intention liegt den Schülern meistens auf der Hand: Das Abitur kommt den Schülern wie ein großer Berg vor, vor dessen Erklimmen man Angst bekommt. Sieht man es allerdings so wie Beppo, dann heißt das: Es werden nie alle Klausuren auf einmal geschrieben, nicht der ganze Lernstoff auf einmal gelehrt. Alles baut aufeinander auf und am Ende ist das Abitur tatsächlich geschafft.
Und natürlich lässt sich das auch auf viele andere Lebenssituationen beziehen. Gerade jetzt, wo die Krise einen fest im Griff hat, wo man das Ende nicht sieht, kann der Gedanke, sich einfach nur auf den unmittelbar nächsten Schritt zu konzentrieren, helfen.
Und doch scheint die Angst und Bedrohung manchmal unerträglich groß. Die Dunkelheit, die den Tag ohnehin schon immer früher heimsucht, scheint sich auch in den Gedanken auszubreiten:
Wie lange müssen wir noch in diesem Ausnahmezustand verharren? Wie lange noch Abstand wahren und Masken tragen? Was macht das mit meiner Familie und mit unserer Gesellschaft? Wie läuft dieses Jahr Weihnachten ab, noch dazu ohne Dahler Krippenspiel? Wird es einen Martinsumzug geben? Welche Zusammenkünfte sind noch verantwortbar? Wie lange kann man den Alltag meistern, wenn er nicht durch Feiern aufgelockert wird, wenn selbst die Vorfreude nicht mehr gegeben ist? Wie lange können Kindergarten und Schule noch einigermaßen normal geöffnet bleiben? Was bedeutet das für die Kinder? Was ist, wenn einer von uns erkrankt? Wenn die Krankenhäuser keine Kapazitäten mehr haben? …
Ohne es beeinflussen zu können, ergibt ein Gedanke den anderen, eine Frage die nächste. Was also tun, um das Gedankenkarussell anzuhalten? Und dann fällt mir wieder Beppo, der Straßenkehrer, ein. Er hat nämlich noch eine weitere herausragende Eigenschaft:
Er ist ein ausgezeichneter Zuhörer und er nimmt sein Gegenüber und sein Anliegen so ernst, dass er oft gar nicht direkt antwortet, sondern manchmal sogar erst Tage später. Zum einen kann der andere so alles aussprechen, was er sagen möchte, und zum anderen kann man sich immer darauf verlassen, dass seine Antworten oder Ratschläge durchdacht und nie leicht daher gesagt sind.
Leider hat ja nicht jeder einen Beppo zur Hand…
…oder vielleicht doch? Gott ist so jemand. Man kann im Gebet alles sagen, alles los werden, man kann klagen, schimpfen, sich fürchten, hadern. Schon die Klagepsalmen des Alten Testaments zeugen von der Grunderfahrung des Menschen mit dem Leid und wie dieses vor Gott ausgesprochen wird und werden muss. Bei ihm ist immer genug Raum für seine schlimmsten Sorgen, für Verzweiflung und Angst. Und genau wie Beppo nimmt er sich für seine Antworten Zeit. Nicht immer kann man sie verstehen, aber manchmal erkennt man in der Rückschau, wie seine Antwort gelautet hat und wir gewinnen nach und nach ein wenig Gottvertrauen hinzu.
In besonders dunklen Stunden hilft uns also vielleicht der Gedanke an Beppo, den Straßenkehrer: Schritt – Atemzug – Besenstrich und dabei ein offenes Zwiegespräch mit Gott.
Cornelia Blum-Hennecke
Lehrerin für Katholische Religion am SGO