(Versuch einer Kurzfassung der Predigt zu meinem Goldenen Priesterjubiläum)
Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Wie geht eigentlich Berufung? – Das müsste ich doch wissen als jemand, der sich auch nach 50 Jahren immer noch zum priesterlichen Dienst berufen fühlt. Doch ich hatte kein konkretes Berufungserlebnis, auf das ich zurückblicken könnte, um diese Frage kurz und bündig zu beantworten. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der der Glaube an Gott und das Leben mit der Kirche den Alltag wie selbstverständlich durchdrungen haben und was mir nie eine Last gewesen ist. Mein Freundeskreis, meine Umgebung, meine Nachbarschaft, das christ-katholische Milieu meiner Kindheit und Jugendzeit hat das übrige dazu getan, dass sich so etwas wie Berufung nach und nach entwickeln und wachsen konnte.
Die Hl. Schrift kennt jedoch sehr viele Beispiele, wie Berufung gehen kann: Jesus beruft z.B. mal so eben im Vorbeigehen wie den Matthäus, den Er auffordert, ihm nachzufolgen. Und der lässt alles liegen und stehen, verlässt seine einträglichen Zollpfründe und folgt Jesus.
Wählerisch war Jesus bei seinen Berufungen generell nicht. Ein kirchliches Führungszeugnis hat ER nie verlangt. Denn der Gott, den Jesus seinen Vater nennt, wendet sich dem Sünder, dem Menschen zu, ohne eine Vorleistung zu verlangen, aus Gnade. Deshalb sagt Jesus: Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu berufen, sondern Sünder. ER macht damit ernst in der Praxis, nicht nur in der Theorie. Sünder mit brüchigen Lebensentwürfen, die gescheitert sind und an sich selbst vorbei gelebt haben, die verstehen seine Worte. Die Gerechten aber sind meist verschlossen für seine Botschaft. Das ist die Tragik, die sich bis heute wiederholt.
Wo ordnen wir uns zu, zu den Gerechten oder zu den Sündern? — Wenn das so leicht wäre! Wenn ich ehrlich bin, dann ist eine Seite in mir immer dabei, mich als gerecht zu fühlen. — Das Wort Jesu will mich ja nicht klein machen, dass ich mit zerknirschtem Herzen mich dauernd als Sünder bekenne. Aber es will mich mit meiner Wahrheit konfrontieren, dass ich bedürftig bin, dass ich oft genug an mir vorbeilebe und dass ich mich danach sehne, wirklich von Gott berührt und verwandelt zu werden. Das heißt, dass ich die Brüchigkeit meiner Tugenden anerkenne und durch all meine Bruchstellen hindurch Gottes liebende Zuwendung, Gottes Gnade in mich einströmen lasse. Gerade meine Bruchstellen können zur Einbruchstelle von Gottes Gnade werden.
Wenn ich auf die 50 Jahre meines priesterlichen Dienstes zurückblicke und nur darüber staunen kann, dass ich das 50 Jahre lang geschafft habe, trotz der immer schwieriger werdenden kirchlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, trotz aller Skandale, Menschlichkeiten und Unmenschlichkeiten, dann kann ich nur demütig und dankbar sagen: Ich war das nicht, der das geschafft hat aus eigener Kraft. Offensichtlich hat Gottes Gnade trotz meiner Macken und Schwächen in vielfältiger Form in meiner Gebrochenheit immer wieder mal Einbruchstellen finden können und auch gefunden, so dass ich auch nach 50 Jahren in diesem Beruf noch Erfüllung finde. Dafür möchte ich Gott danken.
Einen gesegneten Sonntag wünscht Ihnen
Michael Rademacher