Der Palmsonntag, mit dem wir die Heilige Woche beginnen, hätte — wenn sich die Liturgie nur auf das Evangelium vom Einzug Jesu in Jerusalem beschränken würde — einen sehr freudigen und triumphalen Charakter. Für die Jünger Jesu damals war dieser prächtige Einzug Jesu in die Stadt Davids und die frenetischen Beifallsstürme der Menge gewiss so etwas wie die Erfüllung ihrer Träume: Jetzt hatten die Leute wohl endlich begriffen, wer dieser Jesus war: der Messias, der Sohn Gottes.
Doch schon bald darauf mussten sie eine ganz andere Erfahrung machen: Ihre Träume zerplatzten wie Seifenblasen. Die Begeisterung schlug um, und aus dem „Hosianna“ wurde schon bald das von der Menge skandierte „Kreuzige ihn!“ Deshalb bleibt auch die Liturgie des Palmsonntags nicht nur beim triumphalen Einzug in Jerusalem stehen. Sie weist über den Tag hinaus auf den weiteren Weg, der Jesus bevorsteht. Dieser Weg führt IHN hin auf den Kreuzweg nach Golgotha, zur Stätte der Hinrichtung für Verbrecher. Die Leidensgeschichte nach Markus führt uns diese weite und doch so kurze zeitliche Spanne vom „Hosianna“ bis zum „Kreuzige IHN“ vor Augen. – „Hosianna“ und „Kreuzige IHN“, beides liegt ja auch in unserem Leben manchmal ganz nahe beieinander.
Die Feier der Heiligen Woche ist kein Mysterienspiel, kein Schauspiel, keine Oratoriums-Aufführung. Sie ist wirkmächtige Erinnerung, in der freigesetzt wird, was damals zum Heil und zum Gericht der Welt geschah. Doch weil es nach dem Kreuzweg auch noch den Weg zum leeren Grab, den Weg nach Emmaus und die vielen anderen Erscheinungen des Auferstandenen gibt, weil Ostern schon und immer noch wirksam ist — auch wenn wir jetzt in der verunsichernden und verängstigenden Zeit der Corona-Pandemie das vielleicht anders erspüren als sonst die Jahre -, können wir Jesus auch heute als Erlöser und König begrüßen. Weil Jesus im Kampf mit dem Tod als Sieger hervorgegangen ist, schmücken wir zu Hause in den Wohnungen die Kreuze mit Palmzweigen als Zeichen des Lebens und des Sieges.
Ihnen allen einen ermutigenden Palmsonntag und eine gesegnete Heilige Woche.
Michael Rademacher
(Pfarrer i.R.)