Liebe Leserinnen und Leser,
Schreckensbilder gehen seit Wochen um die Welt: Corona-Virus zuerst in China, Südkorea, Iran, dann Italien, Europa, inzwischen ist die ganze Welt betroffen: Pandemie! All die anderen Schreckensbilder von den Kriegen in Syrien, im Jemen und anderswo, vom Flüchtlingselend in den Krisengebieten der Erde, treten völlig in den Hintergrund. Die Pandemie wird zur permanenten Nachricht mit minütlichem Update in den unterschiedlichsten Medien. Menschen sind stark verunsichert und verängstigt — weltweit. Seit Wochen herrscht bedrückte, gespenstische Stimmung auf menschenleeren Straßen in Städten und Dörfern: Karfreitagsstimmung allüberall.
Ein Schreckensbild geht um die Welt. Jeden Karfreitag! Ein Gesicht, zerfleischt von einem Kranz aus stechenden Dornen, der Körper, von der Folter blutig geschlagen, nackt, den geifernden Gaffern schutzlos ausgeliefert. Ein Mensch stirbt einen unmenschlichen Tod. Ein unschuldiges Opfer — wie jene unzähligen Opfer des Corona-Virus auf den Intensivstationen der Krankenhäuser, denen ärztliche Kunst nicht mehr helfen kann.
Karfreitag und das Kreuz Christi sind untrennbar verbunden mit der Vorbereitung auf Ostern; doch in diesem Jahr bekommt der Karfreitag einen ganz anderen Akzent, wird spürbar konkret und verbindet sich mit den unzähligen Kreuzen dieser schrecklichen Pandemie. Ecce Homo! Das Gesicht des Jesus von Nazareth, nach dem wir uns Christen nennen: Gezeichnet von den Ängsten, dem Leid und der Einsamkeit dieser Welt, die wir letztlich nie begreifen.
Am Karfreitag gibt es nichts zu feiern! Da ist Gottesfinsternis über den offenen Gräbern dieser Welt, und die Theologie ist wortreich am Ende. Wenn Gott schweigt, finden wir keine Worte mehr. Wir sind die Zeugen. Mehr verlegene als trauernde Hinterbliebene mit einem Gott, der fern und fremd ist an solchen Tagen. Ist ER grausam oder einfach nur ohnmächtig? Unsere Antworten haben oft nicht mehr die Kraft, andere zu trösten. Auch der Mensch aus Nazareth schreit nach seinem Gott. Schreit die Klage vieler Beter: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?“
Das ist konkret. So schreit der Mensch in Todesnot. So klagt auch der, der keinen Trost mehr findet. Wir durchleben die Erfahrung der Gottesferne. Wir können ihr nicht ausweichen, weil wir IHM nicht ausweichen können, der da mit uns nach Gott ruft. Wie aber zeigt sich IHM und uns Gott? Wie zeigt ER sich all denen, die bis zur Erschöpfung als Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger, Ret-tungssanitäter tagaus tagein den Erkrankten zu helfen versuchen? Das Leiden in dieser Welt ist auch ein Leiden an Gott, sagte einmal der Theologe Karl Rahner. Kein Wunder, wenn wir in die Gottesfinsternis hineinrufen und nichts anderes als das Echo hören.
Die Botschaft des Karfreitags versucht über die nächsten drei Tage hinweg zu trösten: „Gott ist dort, wo der Mensch leidet.“ Doch das ist keine sehr befriedigende Antwort auf dem Weg nach Ostern, auf dem Weg ins Leben. Aber der Karfreitag ist auch kein Tag der Antworten: er ist Totenstille, Grabesruhe; Finsternis liegt über dem Land. Karfreitag will, dass wir wachen, dass wir ihn aushalten, durchleben. Bis Gott den Stein vor den Gräbern dieser Welt ins Rollen bringt. Aber so weit sind wir noch nicht. Es gibt keine Abkürzung in den Ostermorgen. In diesem Jahr wird der Weg in den Ostermorgen wohl länger. Es gibt nur die Weggemeinschaft dorthin, und die aufgrund der besonderen Umstände nur als im Gebet verbundene Gemeinschaft. Und zu dieser Weggemeinschaft im Gebet verbunden möchte ich Sie alle ganz herzliche einladen.
Ihr Pastor Michael Rademacher