Gedanken zum Tag – 10. April 2020, Karfreitag

10. Apr. 2020

Liebe Lese­rinnen und Leser,

Schre­ckens­bilder gehen seit Wochen um die Welt: Corona-Virus zuerst in China, Südkorea, Iran, dann Italien, Europa, inzwi­schen ist die ganze Welt betroffen: Pandemie! All die anderen Schre­ckens­bilder von den Kriegen in Syrien, im Jemen und anderswo, vom Flücht­lings­elend in den Krisen­ge­bieten der Erde, treten völlig in den Hinter­grund. Die Pandemie wird zur perma­nenten Nach­richt mit minüt­li­chem Update in den unter­schied­lichsten Medien. Menschen sind stark verun­si­chert und verängs­tigt — welt­weit. Seit Wochen herrscht bedrückte, gespens­ti­sche Stim­mung auf menschen­leeren Straßen in Städten und Dörfern: Karfrei­tags­stim­mung allüberall.

Ein Schre­ckens­bild geht um die Welt. Jeden Karfreitag! Ein Gesicht, zerfleischt von einem Kranz aus stechenden Dornen, der Körper, von der Folter blutig geschlagen, nackt, den geifernden Gaffern schutzlos ausge­lie­fert. Ein Mensch stirbt einen unmensch­li­chen Tod. Ein unschul­diges Opfer — wie jene unzäh­ligen Opfer des Corona-Virus auf den Inten­siv­sta­tionen der Kran­ken­häuser, denen ärzt­liche Kunst nicht mehr helfen kann.

Karfreitag und das Kreuz Christi sind untrennbar verbunden mit der Vorbe­rei­tung auf Ostern; doch in diesem Jahr bekommt der Karfreitag einen ganz anderen Akzent, wird spürbar konkret und verbindet sich mit den unzäh­ligen Kreuzen dieser schreck­li­chen Pandemie. Ecce Homo! Das Gesicht des Jesus von Naza­reth, nach dem wir uns Christen nennen: Gezeichnet von den Ängsten, dem Leid und der Einsam­keit dieser Welt, die wir letzt­lich nie begreifen.

Am Karfreitag gibt es nichts zu feiern! Da ist Gottes­fins­ternis über den offenen Gräbern dieser Welt, und die Theo­logie ist wort­reich am Ende. Wenn Gott schweigt, finden wir keine Worte mehr. Wir sind die Zeugen. Mehr verle­gene als trau­ernde Hinter­blie­bene mit einem Gott, der fern und fremd ist an solchen Tagen. Ist ER grausam oder einfach nur ohnmächtig? Unsere Antworten haben oft nicht mehr die Kraft, andere zu trösten. Auch der Mensch aus Naza­reth schreit nach seinem Gott. Schreit die Klage vieler Beter: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?“

Das ist konkret. So schreit der Mensch in Todesnot. So klagt auch der, der keinen Trost mehr findet. Wir durch­leben die Erfah­rung der Gottes­ferne. Wir können ihr nicht auswei­chen, weil wir IHM nicht auswei­chen können, der da mit uns nach Gott ruft. Wie aber zeigt sich IHM und uns Gott? Wie zeigt ER sich all denen, die bis zur Erschöp­fung als Ärzte, Kran­ken­schwes­tern, Pfleger, Ret-tungs­sa­ni­täter tagaus tagein den Erkrankten zu helfen versu­chen? Das Leiden in dieser Welt ist auch ein Leiden an Gott, sagte einmal der Theo­loge Karl Rahner. Kein Wunder, wenn wir in die Gottes­fins­ternis hinein­rufen und nichts anderes als das Echo hören.

Die Botschaft des Karfrei­tags versucht über die nächsten drei Tage hinweg zu trösten: „Gott ist dort, wo der Mensch leidet.“ Doch das ist keine sehr befrie­di­gende Antwort auf dem Weg nach Ostern, auf dem Weg ins Leben. Aber der Karfreitag ist auch kein Tag der Antworten: er ist Toten­stille, Grabes­ruhe; Fins­ternis liegt über dem Land. Karfreitag will, dass wir wachen, dass wir ihn aushalten, durch­leben. Bis Gott den Stein vor den Gräbern dieser Welt ins Rollen bringt. Aber so weit sind wir noch nicht. Es gibt keine Abkür­zung in den Oster­morgen. In diesem Jahr wird der Weg in den Oster­morgen wohl länger. Es gibt nur die Wegge­mein­schaft dorthin, und die aufgrund der beson­deren Umstände nur als im Gebet verbun­dene Gemein­schaft. Und zu dieser Wegge­mein­schaft im Gebet verbunden möchte ich Sie alle ganz herz­liche einladen.

Ihr Pastor Michael Rademacher

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